Trauer um Prof. Dr. Akos Paulinyi

Prof. Dr. Akos Pauliny ist am 9. August 2021 verstorben.

30.08.2021 von

Er lehrte von seiner Ernennung 1977 bis 1997 Technikgeschichte an der TU Darmstadt.

Zu Beginn des Jahres 1977 trat Akos Paulinyi die 1972 als Dozentur geschaffene und vier Jahre lang vertretungsweise besetzte Professur für Technik- und Wirtschaftsgeschichte an der Technischen Hochschule Darmstadt an. Dies war nicht nur für das Institut für Geschichte, den Fachbereich und die TH von Bedeutung, sondern auch für das Fach Technikgeschichte, das zu diesem Zeitpunkt erst langsam als historische Disziplin in der Bundesrepublik etabliert wurde. Es war grundständige Aufbauarbeit zu leisten: in Darmstadt, national und international. Akos

Paulinyi beteiligte sich daran mit großer Leidenschaft. Er war einer der Pioniere des damals noch jungen Faches. Er profilierte es mit klaren Positionen, mit seinem genauen Blick auf das technische Artefakt, mit seinen wegweisenden Publikationen und mit seiner umtriebigen, dynamischen und auch kantigen Persönlichkeit.

Paulinyi stand für eine Technikgeschichte, die Technik nicht als Blackbox behandelte. Vielmehr insistierte er, dass es notwendig sei, über technisches Fachwissen zu verfügen und das Funktionieren vergangener Maschinen erklären zu können, um die historische, gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung der Maschinen zu erfassen und einzuordnen. In einem Artikel „Wi(e)der eine neue Technikgeschichte (?) !“ (1996) kritisierte er den zunehmenden Unwillen im Fach, sich mit den technischen Funktionsweisen zu beschäftigen, und warf seinen sozialwissenschaftlich orientierten Kontrahent_innen – frei nach Karl Marx – vor, ein Gespenst einer ingenieurwissenschaftlichen Technikgeschichte herumgeistern zu sehen. In der Tat bedeutete für ihn das Analysieren der technischen Artefakte keine enge ingenieurwissenschaftliche Perspektive. Die sozial- und wirtschaftshistorische Einbettung und Interpretation von Technik waren ihm selbstverständlich.

Die Geschichte der Industrialisierung war sein zentrales Forschungsfeld. Dabei brachte er seine kritische Beschäftigung mit dem historischen Materialismus ein, mit dem er sich in seiner frühen wissenschaftlichen Laufbahn in der Tschechoslowakei auseinandergesetzt hatte. Seine Leser_innen informierte er gleichermaßen über das Puddeln, das Siemens-Martin-Verfahren, die Spinning-Jenny, über Kinderarbeit oder den Wandel der Arbeitsprozesse und der Qualifikationen. Die historische Bedeutung des Übergangs von der Bearbeitung eines Werkstückes mittels menschlicher Hand hin zur Bearbeitung durch eine Maschine wurde in Paulinyis Publikationen eindrücklich klar.

Sein Buch zur Industriellen Revolution von 1989 ist so etwas wie die Summe seines wissenschaftlichen Lebens, behandelt es doch neben den genannten Themen auch die Frage nach technischen Revolutionen innerhalb der Technikgeschichte. Zwei Festschriften, eine zum 65. Geburtstag, eine zur Emeritierung, nahmen nicht zufällig diese Themen auf. Sein Ansehen im Fach belegt die Herausgabe des dritten Bandes der Propyläen Technikgeschichte (1991, zusammen mit Ulrich Troitzsch, der in Darmstadt als erster Technikgeschichte unterrichtet hatte), denn diese Buchreihe genoss zu damaliger Zeit hohes Prestige.

Das Engagement, mit der er für seine Positionen eintrat und auch Kontroversen nicht scheute, bereicherten das Fach mit produktiven Auseinandersetzungen, die heute vermisst werden. Paulinyis Leidenschaft für die Technikgeschichte wurde allerdings durch die Entwicklung des Faches auch auf eine Probe gestellt. Eine stark kulturgeschichtliche oder kulturwissenschaftliche Technikgeschichte, die kein Wort über technische Funktionsweisen verlor, entsprach nicht seinen Vorstellungen von Technikgeschichtsschreibung. Paulinyi wäre nicht Paulinyi gewesen, wenn er sein Missfallen nicht kundgetan hätte.

In jüngster Zeit erfuhren seine Arbeiten eine neue Aktualität und Brisanz und bieten vielleicht einen Schatz, der noch nicht gehoben wurde. So erhielt die Geschichte der Industrialisierung, und somit auch Paulinyis Buch von 1989, im Kontext der Debatten um eine „Vierte industrielle Revolution“ neue Aufmerksamkeit. Die jüngsten Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz-Forschung, in der auch die KI-Forscher_innen selbst mit der Erklärbarkeit der Technik und ihres „Tuns“ ringen, sind Wasser auf die Mühlen seines Plädoyers für das Verstehen technischer Prinzipien als Grundvoraussetzung für eine aufgeklärt-kritische Geschichtsschreibung.

An der TH bzw. TU Darmstadt hat sich Akos Paulinyi nachdrücklich für deren geisteswissenschaftliches und interdisziplinäres Profil eingesetzt und dies nach innen und außen gestärkt. Für den Einsatz von EDV am Institut nahm er eine Pionierrolle ein. Sein Lehrstuhl hatte den ersten PC und nutzte als erster eine Datenbank für die Literaturerfassung. Paulinyi unterstützte Studierende, Promovierende und Habilitierende mit Neugier und Kritik. Vor allem nahm er die Lehre ernst. Es war ihm ein Anliegen, dass Studierende historische Zusammenhänge verstanden, Positionen benennen und durchdachte Texte fabrizieren konnten. „Wo die Sprache holprig ist, sind die Gedanken holprig“, pflegte er zu sagen, wenn er, freundlich-zugewandt, jedoch mit deutlich gerunzelter Stirn, Hausarbeiten oder eine der kleinen Aufgaben, die er stets verteilte, zurückgab. Er war zugleich großzügig und streng. Niemand durfte sich über Unwissen oder Fehler anderer lustig machen. Aber es durfte auch niemand schwadronieren. Wissenschaftliche Präzision impfte er den Studierenden ein.

Akos Paulinyi hatte allen gegenüber immer ein offenes Ohr und Freude am Gespräch und Austausch. Formalitäten waren ihm verhasst, die Freunde des Amtsschimmels verachtete er. Er war intellektuell streitlustig, voller Energie und lebenslustig. „Das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken“, kommentierte er manche Weine auf Empfängen, um dann bald mit Kollegen und Kolleginnen in ein ansprechendes Lokal umzuziehen. Im Institut für Geschichte war er eine soziale Integrationsfigur.

Mit seiner Biographie repräsentierte Paulinyi als einer der letzten die Kultur des längst untergegangenen Habsburg; die Frage nach seiner Staatsbürgerschaft fand er unangemessen, denn die damit stillschweigend verkoppelte nationalkulturelle Identität galt für einen wie ihn gerade nicht. In seiner Familie, so pflegte er zu erzählen, habe man deutsch, mit dem Personal ungarisch und auf der Straße slowakisch gesprochen. Alle drei Sprachen beherrschte er perfekt, denn sie bestimmten seine biographischen Stationen ganz wesentlich. 1929 in Budapest als Sohn eines Historikers geboren, emigrierte die Familie nach dem Zweiten Weltkrieg (1946) nach Bratislava, der alten ungarischen Hauptstadt, bzw. Wien, wo der Vater arbeitete. In Bratislava machte Paulinyi das Abitur und studierte an der Philosophischen Fakultät Geschichte und Archivwesen. Anschließend war er dort als Assistent und Oberassistent tätig. Nach dem Prager Frühling verließ er das Land und kehrte 1969 nach Ungarn zurück, wo er in Miskolc einen Lehrauftrag übernahm. Dann traf ihn auch dort der harte Arm der Kommunistischen Partei und er entschied, in die Bundesrepublik zu gehen. Dank eines Stipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung konnte er in Marburg Fuß fassen. Die Familie holte er bald nach, doch war die Übersiedlung für die in der Tschechoslowakei sozialisierten Kinder, besonders aber für seine damalige Frau, nicht leicht. 1971 wurde Paulinyi in Marburg Professor, bevor er schließlich den Ruf an die TH Darmstadt annahm. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1997 lehrte er mit großem Engagement als DAAD-Professor, später auch im Auftrag der Stiftungsinitiative Johann Gottfried-Herder, außer in Wien an tschechischen, slowakischen und ungarischen Universitäten, so auch an der Universität Miskolc in Ungarn. Letzteres kommentierte er 2001 mit der für ihn typischen Ironie, dass er nun wieder dort sei, wo man ihn einst hinausgeworfen hatte. Sein Herz blieb immer mit der alten Heimat verbunden. Gelebt und gewirkt hat er jedoch seit seinem Ruf an die TH bis zu seinem Tod am 9. August 2021 in Darmstadt.

Das Institut für Geschichte wird seine Aufbauarbeit, seine heute wieder aktuell werdende Weise der Technikgeschichtsschreibung, besonders aber seine starke Persönlichkeit in ehrender Erinnerung behalten. Wir trauern um Akos Pauliniy und sind im Gedanken bei seiner Frau Brigitte Paulinyi und der Familie.